Pressemitteilung
„Das Märchen von den faulen Deutschen“: Bildungs- und Verkehrswende jetzt!
„Mit Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand dieses Landes nicht erhalten können“ polterte Merz in seiner ersten Regierungserklärung und verkennt, dass das scheinbare Mentalitätsproblem der Deutschen in Wirklichkeit ein hausgemachtes, strukturelles Problem im Bildungs- und Verkehrssektor ist.
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Landauf und Landab wird neuerdings verglichen: wie viel mehr oder weniger arbeiten Deutsche im Vergleich zu unseren europäischen Nachbarn? Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) zeigt sich nach der Rede von Merz im Bundestag sogleich alarmiert und berichtet, dass die Griechen 135 Stunden mehr im Jahr arbeiten als der deutsche Bevölkerungsdurchschnitt. Weil nach IW-Prognosen in den nächsten 11 Jahren fast 20 Millionen sogenannte „Babyboomer“ in Rente gehen werden, bestehe die Gefahr, dass die Summe aller gearbeiteten Stunden in Deutschland – sprich das gesamtdeutsche Arbeitsvolumen – zurückgehen wird. Als Hauptursache wird von Politik und Wirtschaft die hohe Teilzeitquote ausgemacht, die im europäischen Ländervergleich mit etwa 30 Prozent sehr hoch liegt. Während die auf volksökonomisches Wachstum setzenden Wirtschaftsinstitute nun mit der Erfassung einer Wochenarbeitszeit den 8-Stunden-Tag abschaffen und längeres tägliches Arbeiten ermöglichen wollen, legt die ÖDP Thüringen den Finger in Wunde: nicht die Mentalität der Teilzeitarbeitenden ist das Problem, sondern die desaströsen Zustände in zwei entscheidenden Sektoren.
Längere Hortbetreuung in Ganztagsschulen notwendig
Die ÖDP stellt zunächst einmal die Frage, ob ein 10-Stunden-Arbeitstag für junge Familien überhaupt erstrebenswert ist oder ob dieses flexible Wochenarbeitsmodell nicht doch eher für ungebundene und kinderlose Beschäftigte in Anspruch genommen werden wird. Unter dem Stichwort „Vereinbarkeit“ von Familie und Beruf sollte doch nun endlich auch der schwarz-roten Regierung ein Licht aufgegangen sein, dass schon ein 8-Stunden-Tag bei zwei erwerbstätigen Elternteilen oder bei Alleinerziehenden wenig Zeit für familiäre Verpflichtungen zulässt. Merz, der mittlerweile schon Teilzeit-Großvater ist, scheint sich dessen nicht bewusst zu sein. Die ÖDP plädiert für die Einführung eines 7-Stunden-Tages bzw. einer 35-Stunden-Woche, um eine bessere Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Kinderbetreuung zu erreichen. Was aus struktureller Sicht in den ostdeutschen Bundesländern jahrelang praktikabel war und unter anderem eine höhere Erwerbstätigkeit von Frauen zur Folge hatte, wird nun deutschlandweit vor allem mit dem stagnierenden Ausbau von Ganztagsschulen und der fehlenden Hortbetreuung in Frage gestellt. Die ÖDP Thüringen weist darauf hin, dass es aus familienpolitischer Sicht keiner 10-Stunden-Tageskrippen für Ein- bis Zweijährige bedarf, wenn man das langjährige ÖDP-Modell eines Erziehungs- und Pflegegehaltes zugrunde legt. Es bedarf aus familienpolitischer und arbeitspolitischer Sicht vor allem einer gesicherten Kinderbetreuung für 3-12- Jährige auch in den Nachmittagsstunden. Der plötzliche Wegfall der Hortbetreuung während der Corona-Pandemie lief vielerorts danach nur schleppend wieder an; viele Schulämter in Deutschland haben seit jeher nicht den bildungspolitischen Anspruch, eine flächendeckende Hortbetreuung bis 17 Uhr zu ermöglichen. Diejenigen Schulen, die bisher eine qualitativ gesicherte Nachmittagsbetreuung für Grundschüler gewährleisten konnten, haben Probleme ihre Angebote wegen Personalnotständen aufrecht zu erhalten. Aus diesen Gründen kommt es immer öfter auch in den strukturell besser aufgestellten 5 ostdeutschen Bundesländern zu Betreuungsengpässen, die eine Erhöhung der täglichen Teilzeitbeschäftigungsrate nahezu unmöglich machen.
Von einem 4-Stunden-Schultag zu einem 10-Stunden-Arbeitstag ist es ein sehr langer Weg
Ein anderes Dilemma sieht die ÖDP auf die Arbeitswelt zukommen, dem eine fehlgeleitete Bildungspolitik vorausgeht. Wirtschaft und Politik stehen vor der Frage, wie sie Schülern, die jahrelang verkürzten Unterricht, Fehlstunden und Schulalltage von teilweise nur drei oder vier Unterrichtsstunden zu absolvieren hatten, nun den Arbeitsalltag eines Vollzeit-Arbeitnehmers näher bringen wollen. Die Abbruchquote bei Ausbildungsverträgen lag 2022 bei 29,5%; der Anstieg der Lösungsquote im Vergleich zu den Vorjahren stieg dabei unabhängig von Geschlecht, Art des Schulabschlusses oder Staatsangehörigkeit. Interessant ist zudem, dass trotz eines konstanten Wirtschaftswachstums in Deutschland seit 2013 die Zahl der Ausbildungsverträge nicht nennenswert gestiegen ist. Zwischen 2007 und 2019 lässt sich ein Rückgang der Vertragszahlen von mehr als 16% verzeichnen – die Gesamtentwicklung kann daher nicht mit der wirtschaftlichen Lage erklärbar gemacht werden. Sind es also Mentalitätsprobleme der Heranwachsenden, die einen Ausbildungsabbruch begünstigen, oder ist die Misere hausgemacht? Die Bildung in Deutschland ist föderal organisiert. Dieser Bildungsföderalismus, der vielfach durch die uneinheitliche Gesetzeslage berechtigterweise kritisiert wird, kann aber auch Chancen bieten. Der thüringische Landesverband der ÖDP steht geschlossen hinter der Forderung einer echten Bildungswende. Dabei geht es nicht ums Herumdoktern an Symptomen, sondern um eine strukturelle Neugestaltung des Bildungssystems, wo jahrzehntelange Erfahrungen in unterschiedlichen politischen Systemen dazu beitragen sollten, das beste Bildungsklima für die junge Generation zu schaffen. Nicht ohne Grund wirbt die ÖDP Thüringen seit ihrem letzten Landeswahlprogramm für die Ausweitung der Grundschulzeit auf 6 Jahre. Eine längere schulische Betreuungszeit ohne private Smartphone-Nutzung im Schulalltag fördert nicht nur die Lese-, Schreib- und Sprachkompetenzen sowie das Sozialverhalten der Schüler, sondern bereitet die Kinder durch qualifizierte Ganztagsangebote auf einen längeren „Arbeitsalltag“ im Erwachsenenalter vor. 12 bis 16-Jährige sind heute kaum noch ganztags belastbar, die Konzentrationsfähigkeit nimmt mit dem Grad des Unterrichtsausfalls kontinuierlich ab. Wie kann ein Ausbildungsbetrieb von einem frisch gebackenen Absolventen der Mittleren Reife erwarten, sich 8 Stunden täglich konzentriert einer Tätigkeit zu widmen, wenn der Auszubildende während der Schulzeit über Jahre hinweg bereits am Mittag wieder zu Hause war? Die junge Generation ist schlechter denn je auf die Arbeitswelt vorbereitet, was aber weniger mit den Mentalitätsproblemen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu tun hat, sondern vielmehr mit den strukturellen Voraussetzungen im Bildungssystem.
Ausbau des ÖPNV-Angebotes hat Vorrang
Ein weiteres generelles Hindernis für Mehrarbeit sieht die ÖDP in der unzureichenden ÖPNV-Infrastruktur begründet. Menschen entscheiden sich heute bewusster als noch vor einigen Jahren gegen einen eigenen PKW. Es ist eine Frage der ökonomischen Chancengleichheit und Gerechtigkeit, wie gut eine Region mit dem ÖPNV ausgestattet ist. In strukturarmen Regionen werden reihenweise Buslinien abgebaut und Schieneninfrastruktur vernachlässigt; das kleinteilige ÖPNV-Angebot in den Nachmittags- und Abendstunden nicht mehr bedient. An den Wochenenden werden vermehrt in ländlichen Gegenden Buslinien komplett aus dem Fahrplan genommen. Sicherlich bestimmt die Nachfrage auch das Angebot. Die ÖDP bestreitet nicht, dass kostendeckend gewirtschaftet werden muss. Aber um eine Mehrarbeit der deutschen Bevölkerung zu fördern, muss es unserer Auffassung nach ein verlässliches ÖPNV-Angebot auch in ländlichen Regionen und auch an den Wochenenden geben, denn nicht alle Arbeitsplätze befinden sich in Innenstädten mit S-Bahn-Anschlüssen im 10-Minuten-Takt. Dazu stellte die ÖDP Thüringen bereits Konzepte vor um die Pendelzeit zwischen Wohnort und Arbeitsplatz effektiver zu gestalten: mit der Einführung von vorerst staatlich subventionierten, deutschlandweit einheitlichen Regio-Tickets, bei denen die Nahverkehrsunternehmen nicht mehr auf den Kosten sitzen bleiben wie das beim Deutschlandticket der Fall ist. Zudem spart ein monatliches 19-€-Ticket pro erwachsener Person den Familiengeldbeutel und sorgt trotz zunehmend höherer Lohnabgabenlast für mehr soziale Gerechtigkeit. Denn wenn wir ehrlich sind, trägt ein Unternehmensmanager, der mit seinem ICE-Ticket in 8h für Geschäftskonferenzen zwischen Berlin und Paris pendelt, nicht mehr zum Wohlstand unseres Landes bei, als eine Teilzeitkraft, die sich trotz allem über die Hürden von unzureichender Kinderbetreuung und ÖPNV-Angebot hinwegsetzt. Wer wissen will, wie es mit der politischen Wertschätzung der pendelnden Arbeitnehmer in strukturschwachen Regionen weitergeht, der muss sich nur das Zitat eines Vorstandsmitglieds der Deutschen Bahn durchlesen: „Bis Dezember 2026 werden 20 deutsche Großstädte mit einem ICE-Halbstundentakt an den bundesweiten Fernverkehr angebunden sein.“
Die Ökodemokraten fordern die Landes- und die Bundesregierung auf, die wahren strukturellen Missstände zu beseitigen, damit es mit dem „Wohlstand“ dieses Landes nicht völlig bergab geht!